Die Frage nach dem Sinn des eigenen Tuns wird im organisationalen Kontext immer häufiger gestellt. Organisationen merken, dass ein rein transaktionales Verständnis – sei es zu ihren Mitarbeitern (Arbeitszeit gegen Geld) oder den eigenen Kunden (Produkte/ Services gegen Geld) – nicht mehr ausreicht, um erfolgreich agieren zu können.

Daher gilt: Wer Mitarbeiterleistung, Veränderung oder Kundenbeziehung will, muss Sinn bieten.

Die Frage, was als sinnvoll erachtet wird, ist eng verknüpft mit dem eigenen Selbstverständnis. Dieses beschreibt, wer man ist und was einen antreibt. Das Selbstverständnis ist daher ein zentraler Aspekt bei der Frage, wie eine Organisation Sinn stiften kann. Es erscheint daher hilfreich, sich mit dem Konstrukt des Selbstverständnisses näher auseinander zu setzen. Das ist Gegenstand dieser Ausarbeitung.

Der vorliegende Text beleuchtet,

  • was Selbstverständnis im organisationalen Kontext bedeutet,
  • stellt ein Modell vor, mit dessen Hilfe alle relevanten Aspekte des eigenen Selbstverständnisses erarbeitet werden können
  • und erläutert die zentrale Bedeutung, die das Selbstverständnis auf die operative Handlungsfähigkeit einer Organisation hat.

 

Das Selbstverständnis

Das Selbstverständnis beschreibt, wer man ist. Es drückt das Bild aus, das man von sich selbst hat. Bezogen auf den Organisationskontext ist das Selbstverständnis der Ausgangspunkt für alles: Entsprechend dem Selbstverständnis werden Ziele gesetzt, Strategien festgelegt, Geschäftsmodelle geformt und die Art und Weise der Umsetzung definiert.

Es ist damit die Basis für die Frage, warum, was und wie eine Organisation etwas tut bzw. nicht tut.

Damit ist eine fundierte Strategiearbeit, die zielführende Ableitung von Organisationszielen oder die Entwicklung kultureller Aspekte ohne die Berücksichtigung des eigenen Selbstverständnisses nicht denkbar.

Wir stellen im Folgenden ein von uns entwickeltes Konzept des Selbstverständnisses vor, mit dem wir in der Praxis intensiv arbeiten und das angelehnt ist an Collins‘ und Porass‘ Ansatz der „core ideology“ (vgl. J.C. Collins, J.I. Porras: Built to Last: Successful Habits of Visionary Companies, Harper Business, 1996).

Die drei Parameter des Selbstverständnisses

Das Konzept des Selbstverständnisses beziehen wir im vorliegenden Text auf Organisationen und Abteilungen großer Organisationen, sprechen aus Vereinfachungsgründen aber von Organisationen.

Das Verständnis einer Organisation über sich selbst ist ohne Berücksichtigung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht denkbar. Das Konzept unseres Selbstverständnisses umfasst daher drei wesentliche Bestandteile, vgl. auch Abb. 1.

Es beschreibt,

  • nach welchen Prinzipien und Überzeugungen eine Organisationen handelt
    (die Kern-Werte),
  • was die Existenzberechtigung der Organisationen ist (der Kern-Purpose) und
  • was eine Organisation als einen wünschenswerten Zustand definiert, nach dem das eigene Handeln ausgerichtet wird und den es einmal zu erreichen gilt (die Vision).

Damit beantwortet das Selbstverständnis die Fragen:

  • „Für was steht die Organisation?“
  • „Wozu gibt es die Organisation?“
  • „Was will die Organisation einmal erreichen?“.

Das Selbstverständnis beschreibt also, wie und als was sich eine Organisation begreift und spiegelt so den innersten Kern, die „DNA“ der Organisationen.

Im organisationalen Alltag werden die ersten zwei Fragen häufig nicht diskutiert, mit der Frage nach den „großen Zielen“ – was die Organisation einmal erreichen will – wird sich häufig nur ungenügend auseinandergesetzt.

Ist die Vision jedoch unzureichend definiert oder wurde sie für externe Marketingzwecke formuliert, kann weder eine zielführende Strategie (Strategie definiert als ein möglicher Weg zum Ziel) entwickelt werden, noch eine Priorisierung darüber erfolgen, welche Themen, Projekte und Anforderungen wie zu gewichten und zu bearbeiten sind. Darüber hinaus kommt erschwerend hinzu, dass zu Begriffen wie „Ziele“ und „Strategie“ selbst innerhalb einer Organisation häufig kein einheitliches Begriffsverständnis existiert.

Folgt man der Annahme, dass

  • einer Organisation ohne Wissen und Beachtung seiner Kern-Werte und seines eigenen „reason why“ die großen „Leitplanken“ fehlen und deshalb nicht nachhaltig zielorientiert agieren kann und
  • Ziele nicht in einem Vakuum, sondern im Kontext einer Vision abgeleitet werden,

wird deutlich, welche Bedeutung die o.g. Fragen nach dem eigenen Selbstverständnis für die operative Handlungsfähigkeit einer Organisation haben.

 

Authentizität als entscheidende Voraussetzung

Ein Selbstverständnis ist stabil und im Zeitverlauf beständig. Das Selbstverständnis verändert sich nicht aufgrund sich verändernder Rahmenbedingungen. Ganz anders verhalten sich operative Ziele, Strategien oder Taktiken ­– sie müssen verändert und angepasst werden, um den externen und internen Veränderungen Rechnung zu tragen.

Das Selbstverständnis basiert auf intrinsischen Aspekten, die keine externe Rechtfertigung benötigen. Es geht also nicht um „jene Form des Selbstverständnisses, mit dem sich Agierende bewusst präsentieren und inszenieren“, sondern um wahrhaftige Aspekte, die sich auf einer „impliziten Handlungsebene“ abspielen. (vgl. Schmidt F., 2012: Professionelles Selbstverständnis. In: Implizite Logiken des pädagogischen Blickes, Springer).

Es geht also um die tatsächlichen Ausprägungen von Werten, Purpose und Visionsvorstellungen der Beteiligten und nicht um sozial erwünschte oder gesellschaftlich geforderte Normen.

Das ist ein wichtiger Punkt: die Unterscheidung zwischen dem, was tatsächlich ist und dem, wie wir es gerne hätten. Selbst wenn sich die Beteiligten diesem Aspekt bewusst sind, bleibt die Herausforderung, im Findungsprozess nach dem Ist zu suchen und sich nicht von einem Soll beeinflussen zu lassen. Gelingt das nicht, ist das Resultat nicht authentisch und damit nicht in der Lage, den Zweck eines Selbstverständnisses zu erfüllen. Dieser Zweck ist nicht etwa eine nach außen gerichtete Differenzierung zu Wettbewerbern, sondern die Vermittlung von Orientierung und Inspiration für die Beteiligten.

Wenn eine Organisation sein Selbstverständnis gefunden hat, sollte es die Aspekte, die diesem Selbstverständnis entgegenstehen, verändern und entsprechend anpassen.

Im Teil II stellen wir die drei zentralen Bestandteile Werte – Purpose – Vision des Selbstverständnisses vor und setzen diese zueinander in Beziehung wie auch in den Kontext alltäglicher Herausforderungen in der organisationalen Praxis.